Mentaltraining im 4. Lockdown – 3 Tipps für die eigene mentale Stärke

Die einen haben es geahnt, die anderen auch, wollten es aber vielleicht nicht wahrhaben. Und manche von uns hat es völlig unvorbereitet - weil nicht vorstellbar - getroffen: wir sind im November 2021 angelangt und befinden uns hier in Österreich mitten im nächsten Lockdown. Ich hatte letzten Freitag zu Beginn eines aktuell laufenden Mentaltrainer Lehrgangs die Frage in die Runde gestellt, wie es denn den Teilnehmer*innen mit dem vor 3 Stunden angekündigten, dreiwöchigen Lockdown geht. Die Antworten waren höchst unterschiedlich:

 

Eine Teilnehmerin meinte, dass sich ihr Umfeld freut, dass sie jetzt mehr zu Hause ist. Eine andere Teilnehmerin warf ein, dass sie wieder mal mehrere geplante Projekte von einem Tag auf den anderen über den Haufen werfen könne. Und andere meinten, sie seien des Themas müde und stellen sich bereits auf eine Verlängerung des Lockdowns ein. Doch eines hatten alle gemeinsam: Es war doch eine mehr oder weniger hohe Unsicherheit in Hinblick auf die nächsten Wochen, Monate zu spüren. Und genau um jene Unsicherheit, die mit solchen Krisen verbunden ist und wie unsere Einstellung dazu den entscheidenden Unterschied macht, geht es dieses Mal in meinem Blog. 

 

wir haben die Situation im Griff.

Fakt ist: wir dachten, wir hätten die Situation im Griff. Es wurde von vielen Medien und von der Politik ein Zukunftsszenario der Kontrolle geschaffen – und das ist keineswegs negativ gemeint: Wenn wir Situationen unter Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Sicherheit ist ein existenzielles Bedürfnis von uns Menschen. Wenn diese fehlt, fühlen wir uns in unserer Existenz bedroht. Und eben das passiert in Krisen wie der Corona Krise – unsere „sichere Existenz“ ist nicht mehr spürbar. Dabei zeigt sich dies in unterschiedlichen Ausprägungen: Bei den einen ist es der Job, der dadurch unsicher wird, die anderen bangen um die Ausbildung der Kinder, wieder andere erleben den Verlust des sozialen Netzwerkes – oder: wir erleben alle diese Unsicherheiten gleichzeitig.

 

Der deutsche Psychoanalytiker Ralf Vogel hat zu diesem Phänomen ein für mich sehr nachvollziehbares Bild gemalt: Die Verunsicherung können wir uns als zweistöckiges Haus vorstellen: wenn wir für den nächsten Tag eine Präsentation vorbereiten und die immer und immer wieder durchgehen, um sicher zu gehen, dass da kein Fehler drin ist, dann betrifft diese Unsicherheit den oberen Stock des Hauses. Dasselbe passiert, wenn wir keine Idee haben, wie wir den Alltag mit unseren Kindern so planen können, dass sich alle in der Familie dabei gut fühlen.

 

 

Gleichzeitig sind jedoch im unteren Stockwerk die damit verbundenen existenziellen Themen spürbar: die Unsicherheit über z.B. den Sinn des Lebens, die Dauer eben jenes oder die Unsicherheit über die individuelle Freiheit.  Am besten, meint Vogel, können wir mit Verunsicherung umgehen, wenn wir in beiden Stockwerken leben und uns mit diesen auseinandersetzen: dem, was sich gerade an der Oberfläche zeigt, aber auch mit den Themen, die da unbewusst mitschwingen. 

Die unsicherheitstoleranz

In der Corona Krise erleben viele von uns diese untere Etage, und sind irritiert und unvorbereitet. Ein Beispiel dazu hat mir letztens eine Freundin erzählt: Während ihrer Corona-Erkrankung musste sie über Wochen in Quarantäne bleiben, und auch danach waren die sozialen Kontakte aufgrund von Lockdowns für sie eingeschränkt: Das Gefühl, das sie dabei beschlich, war Einsamkeit. Sie meinte, sie konnte davor gut alleine sein, hat es teilweise sogar genossen. Aber eben in jener Krisenzeit kam das untere Stockwerk dazu – und damit ein existenzielles Thema: das Gefühl des Alleinseins wurde aufgeladen von einer tieferliegenden Not. (vgl. Psychologie heute, 12/2021). Und solche Reaktionen und Gefühle verunsichern uns, weil wir sie nicht zuordnen können. „Ich war doch schon oft allein, das kann doch jetzt nicht so schlimm sein“ könnte dann noch ein Gedanke sein, der uns komplett das Verständnis für vermeintliche Themen aus der unteren Etage entzieht. Das verunsichert uns dann noch mehr.  

Unsere mentale Haltung zu Unsicherheit & Ambiguität (Mehrdeutigkeit) macht den Unterschied

Tatsächlich macht die mentale Einstellung zu Unsicherheit den entscheidenden Unterschied, wie gut wir durch so eine Krise oder Phase der Verunsicherung kommen können: je eher wir von uns selbst die Idee haben, mit Unsicherheiten umgehen oder vielmehr diese Unsicherheit ertragen zu können, desto leichter fällt uns die Akzeptanz dieses Zustandes. Experten sprechen hier von der sogenannten Unsicherheitstoleranz. Vereinfacht gesagt: wenn ich denke „Ich halte es aus, nicht zu wissen, wie es morgen sein wird, ich vertraue auf den Lauf des Lebens.“ dann habe ich die Unsicherheit akzeptiert. Und Akzeptanz ist der Schlüssel, um in die Veränderung gehen zu können. D.h. ich kann akzeptieren, dass ich manche Dinge einfach nicht unter Kontrolle bringen kann. Wir Menschen wünschen uns Klarheit und Sicherheit. Aber ein Teil darf immer unsicher bleiben, das ist ein Teil unseres Lebens. Das oft zitierte Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ darf also hier mal abgeändert werden: „Vertrauen ist gut, Kontrolle auch.“ Es darf also beides nebeneinander bestehen – also mehrdeutig sein. Übrigens auch ein Phänomen der aktuellen Corona Situation: Das Auszuhalten, dass es kein Schwarz-Weiß-Denken gibt. Es gibt nicht die EINE Wahrheit.

 

 

Ich habe in meiner Praxis ein paar Klientinnen, die nicht geimpft sind. Alle haben für sich selbst sehr gute Gründe, warum sie das nicht tun. Auch in meiner Kollegenschaft gibt es Menschen, die die Impfung für sehr bedenklich empfinden. Ich selbst bin geimpft. Sie fragen sich vielleicht, welche Meinung ich zur Impfung habe. Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Beide. Ich kann beide Seiten verstehen, und ich halte beide Meinungen dazu gut aus. Auch hier ist die mentale Haltung entscheidend: „Grau ist okay, es lebe die Vieldeutigkeit.“ Damit kann ich akzeptieren, dass die Meinung des anderen auch gute Aspekte beinhaltet, ohne mich damit auf eine Seite schlagen zu müssen. 

Vertrauen kann man nicht herzaubern, aber man kann es zulassen.

Was also tun bei Unsicherheit und Angst vor Kontrollverlust?

 

1.       Mentaler Tipp: Verständnis für sich und andere aufbringen

Zu Beginn kann es sehr hilfreich sein, für sich selbst eine gewisse Empathie an den Tag zu legen, und den Gedanken und Gefühlen, die da hoch kommen Raum zu geben. Es darf uns wütend machen, dass wir nun wieder vorwiegend zu Hause sind. Es ist auch absolut normal, wenn sich ein Gefühl der Hilflosigkeit meldet, oder auch Angst oder Einsamkeit. Sagen Sie sich das durchaus vor: „Es ist normal, dass ich jetzt wütend/traurig/verärgert etc. bin.“ Damit geben Sie dem Gefühl Raum, und immer dann, wenn wir etwas Raum geben – also in die untere Etage unseres Hauses gehen, dann kann es sich auch verändern. Aber nicht nur mir selbst gegenüber ist das Verständnis für aktuelle Befindlichkeiten wohltuend und hilfreich: Das Verständnis für andere und das Aushalten von anderen Meinungen kann im Umgang mit anderen mir selbst helfen, nicht in den Konflikt zu gehen, bzw. bei anderen keinen Widerstand auszulösen.

 

2.       Mentaler Tipp: Überzeugungen aufspüren

Fragen Sie sich, wie Sie über Unsicherheit denken und das Aushalten von unterschiedlichen Meinungen bewerten. Denken Sie z.B. dass Sie Ungewissheit handlungsunfähig macht? Oder dass es sogar gefährlich ist, nicht alles im Griff zu haben? Haben Sie die Idee, dass es nur eine Wahrheit, eine Lösung geben kann? Dass Sie nicht gleichzeitig für und gegen die Impfung sein können? Stellen Sie sich also diese oder ähnliche Fragen und notieren Sie mal solche oder ähnliche Überzeugungen. Alleine das Notieren von Gedanken kann hilfreich sein, um sich diese mal bewusst zu machen – sie dürfen also in den ersten Stock unseres Hauses kommen. Dieses Notieren kann über mehrere Tage passieren, lassen Sie ihre Notizen dazu wachsen.

 

3.       Mentaler Tipp: Überzeugungen umstrukturieren

Haben Sie sich Ihrer Gedanken einmal bewusst gemacht, kommt der nächste Schritt: Sie dürfen diese Gedanken hinterfragen und umstrukturieren. Dazu haben wir im mentalen Training eine Reihe an Techniken, mit denen das wunderbar gelingt. Eine Technik ist das sogenannte hedonistische Kalkül. Diesen Namen brauchen Sie sich bitte nicht merken, wohl aber die Schritte dorthin.

 

Nehmen Sie sich also einen Gedanken, den Sie bei Punkt 2 notiert haben – z.B. „Ich halte diese Ungewissheit nicht aus!“. Dann gehen Sie die nächsten 3 Schritte durch:

-          Woher kommt dieser Gedanke?
Möglicherweise hatten Sie schon einmal eine Situation, in der es schwer zu ertragen war, dass es ungewiss ist. Das müssen keine großen Erlebnisse gewesen sein, also durchaus Themen des Alltags – wie z.B. das ungewisse Ende des Studiums, oder die Frage, ob ich den Zug erreichen werde. Mit dieser Antwort geben Sie sich Verständnis, dass es okay ist, diesen Gedanken zu denken.

-          Ist dieser Gedanke hilfreich?

Wohl eher nicht, wird hier die Antwort sein. Dieser Gedanke zweifelt an meinen Fähigkeiten und wenn ich nicht an meine Fähigkeiten glaube, werde ich höchstwahrscheinlich wenig handlungsfähig sein.

-          Welcher Gedanke wäre hilfreicher?
Hier können Sie jeglichen Gedanken wählen, der für Sie in dieser Situation ein gutes Gefühl mit sich bringt, also z.B. „Ich halte diese Ungewissheit gut aus.“

-          Was spricht für diese neue Sichtweise?

 

Meistens brauchen wir gute Gründe und Fakten, damit wir etwas glauben. Dieser Punkt ist dafür gedacht: Notieren Sie hier z.B. Situationen, in denen Sie nach einer Phase der Unsicherheit und Ungewissheit weitergemacht, gehandelt bzw. eine Lösung gefunden haben. Je mehr Argumente Sie hier notieren, desto besser wird sich der neue Gedanke einprägen.

ein tipp zum schluss

Und noch ein Tipp zum Schluss: Wenn wir zu ausgelaugt sind, weil so vieles gleichzeitig auf uns einprasselt, dann macht es keinen Sinn an der Unsicherheitstoleranz zu arbeiten. Dann ist es gut, die Gewohnheiten, die im Moment da sind und sicher sind, mehr Raum zu geben. Das Arbeiten und Hinterfragen benötigt also ein Stück psychische Basis, damit wir uns nicht komplett überfordern.

 

 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein gutes Üben im Lockdown. Möge es der letzte sein, den wir aushalten dürfen. 

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